Swiss Hard Rock and Heavy Metal Magazine since 1999
You can reach us via email or phone.
+41 (0) 79 638-1021
"...es ist ein farbiges Werk geworden. So wie ich es bin. Das will ich nicht verstecken..."
Seraina Telli hatte ich nicht (mehr) auf meinem musikalischen Radar, nachdem sie Burning Witches verliess. Als bekannt wurde, dass die Aargauerin mit ihrer Solo-Truppe den Support von CoreLeoni übernehmen würde, waren meine Erwartungen gering. Umso mehr überraschte und überzeugte mich die Gitarre spielende Sängerin an den drei Abenden in Aarburg, Pratteln und Solothurn. Allein die Stimme, welche heute mehr zur Geltung kommt und eine wilde, punkige wie freche Note besitzt, zog mich, je länger je mehr, in ihren Bann. Es ist nicht nur die rockige Attitüde, welche den ausdrucksstarken Gesang von Seraina ausmacht, sondern auch die verletzlichen Momente, bei denen man merkt, dass sie alle Emotionen in einen Song zu stecken vermag. Die Musik ist wie Seraina, heisst geschmückt mit viel Farben und einer positiven Ausstrahlung, aber auch nachdenklichen Momenten. Somit gehört der Part in Solothurn, als «Remember You» von Seraina gespielt wurde und das Publikum völlig still war, zu den "gänsehautigsten Erfahrungen" meiner ganzen Konzert-Karriere. All diese Dinge veranlassten mich, mit der Shouterin über die Entstehungsgeschichte von «Simple Talk» zu sprechen.
MF: Wie kam es zum Solo-Album, respektive was war der ausschlaggebende oder inspirierende Punkt dabei?
Seraina: Es war ein Song, nämlich «I' m Not Sorry», unsere letzte Single. Zuerst hätte daraus eine Kollaboration mit Anna Lux, einer deutschen Goth Rock Truppe, werden sollen. Wir tauschten Ideen untereinander aus (lacht), und ich befand mich plötzlich inmitten eines Workflows (lacht). Daraus entstand der komplette Track mit Text. Ich schickte ihn Anna Lux, und als Antwort kam: "Das ist DEIN Song" (lacht). Er passte aber nicht zu meiner Progressive Rock Band Dead Venus. Das Management fragte mich deshalb an, wieso ich nicht ein Solo-Album veröffentliche. Mein Name sei ja nicht unbekannt, und so ergab sich die Möglichkeit. Ich schrieb weitere Lieder, und man erkannte, in welche Richtung sich das Ganze entwickelte.
MF: Sind diese Songs auch deine heimliche musikalische Liebe, die du immer ausleben wolltest?
Seraina: Absolut! Es sind zwei Seiten in mir, und ich liebe diese Tracks, weil sie förmlich nach Party schreien. Sie machen Spass, und man kann auf eine Art nach Buchvorgabe komponieren. Beim Progressive Rock habe ich kaum musikalische Grenzen oder besser gesagt, ich setzte mir keine (grinst). Beim Solo-Album waren die Konturen hingegen klar gesetzt. Das macht extrem viel Spass, und ich kriegte die Möglichkeit, mit diesen Klischees zu spielen…
MF: …und trotzdem ist das Album sehr abwechslungsreich geworden…
Seraina: …richtig, es ist ein farbiges Werk geworden. So wie ich es bin (lacht). Das will ich nicht verstecken und ist in meinen Augen auch das Interessante. Im Kontext der "einfachen" Musik kann man diese Farbenwelt auch voll ausschöpfen. Das war die Idee dahinter, und darum nennt sich das Album «Simple Talk». Es war mein Test, wie ich mich in der "einfacheren" Musik ausleben kann, die aber trotzdem "catchy" ist und im Radio gespielt wird.
MF: Wie lange hast du an den Tracks für «Simple Talk» geschrieben?
Seraina: Das war sehr unterschiedlich. Bei einigen waren diverse Ideen vorhanden, und innerhalb einer Stunde stand die Nummer. Bei den Texten…, ab und zu sind es diese Gedankenblitze (lacht) und es passt gerade so, wie es ist. Bei anderen Parts bestehen Ideen, die sich nicht gleich verarbeiten lassen und für einen Moment auf die Seite gelegt werden.
"...Ich wollte keinen schönen Rock oder Metal kreieren, bei dem alles perfekt gespielt ist, das interessierte mich nicht..."
MF: Gab es einen Masterplan, welchen du mit «Simple Talk» verfolgt hast?
Seraina: Zuerst schrieb ich «I'm Not Sorry», und dann kamen zwei andere Ideen ans Tageslicht, die dazu passten. Somit war klar, es muss Rock sein, der rotzig ist. Ich wollte keinen schönen Rock oder Metal kreieren, bei dem alles perfekt gespielt ist, das interessierte mich nicht. Ich wollte rotzig und auch punkig klingen. Zudem wollte ich selbst Gitarre spielen mit meinem dreckigen Sound, bei dem sicherlich ganz viele Gitarristen (lachend) der Meinung sind: "What the hell tut sie da?" (lautes Lachen). Mir gefällt es (lacht), und das war der Plan. Ich entdeckte das Wort "in your face rock" für mich.
MF: Somit für dich auch ein Freischwimmen von den anderen Bands wie Dead Venus und Burning Witches?
Seraina: Vielleicht (überlegt)…, ja, kann sein. Für mich ist das Musizieren ein Verarbeiten, was in meinem Leben passiert. Musik war aber auch meine Vergangenheit (lacht).
MF: In meinen Augen kommt deine Stimme bei dieser musikalischen Abwechslung besser zur Geltung als bei Dead Venus oder Burning Witches, viel facettenreicher. Hast du dich bei den anderen Truppen limitiert gefühlt?
Seraina: Bei Burning Witches war ich sicherlich limitiert. Dies aus dem einfachen Grund der bestehenden Konstellation und der Musikrichtung. Bei Dead Venus halte ich mich hingegen nicht zurück. Das ist eine andere Art Musik, und der Schwerpunkt liegt an einem anderen Ort (grinst). Es ist Kunst und wird mit dem Optischen vereint. Zusammen mit den Videos ist es wie ein Theater. Darum liegt der Schwerpunkt nicht unbedingt auf der Stimme. Im Rock sind die besten Sänger zu hören. Aus diesem Grund liegt der Fokus bei meiner Solo-Band auf der Stimme.
MF: Es rotzt, es ist frech (Seraina lacht), aber auch die zerbrechliche Seraina hört man. Wie persönlich wolltest du das Solo-Album gestalten?
Seraina: Es ist ein sehr persönliches Werk geworden, eine Art Tagebuch. Sonst gebe ich nicht viele private Dinge preis, und schon gar nicht auf Social Media. Ich mag meine Privatsphäre. Wenn du wissen willst, wie es in meinem Kopf aussieht (grinst), dann musst du dir meine Musik anhören (lacht). Das kommt aus dem Herzen.
"...Man kann seine Geheimnisse für sich behalten und trotzdem darüber singen..."
MF: Gibt es für dich eine Grenze, bei der du dir nicht in deine Seele blicken lässt und dir die Texte dann zu persönlich sind?
Seraina: Bis jetzt bin ich noch nicht so weit gegangen (lacht). Die Art, wie man seine Themen verarbeitet, ist auschlaggebend. Was ich nicht mag, sind diese plakativen Dinge. Man kann seine Geheimnisse für sich behalten und trotzdem darüber singen. Ich mag es, wenn die Texte so geschrieben sind, dass sich viele Leute darin wiederfinden und sich damit auseinandersetzen können.
MF: «Remember You» ist in meinen Augen eine unglaublich tief gehende und emotionale Nummer. Was hast du dabei verarbeitet?
Seraina: Es war eine Freundschaft, die auseinanderbrach. Ich denke das geht vielen Zuhörern so, dass sie da sitzen und sich fragen: "Haben wir jemals richtig miteinander gesprochen, ich kenne diese Person nicht?!". Plötzlich kommen solche Fragen hoch. Das ist die Message bei diesem Song, dass man solche Situationen auch akzeptieren und für sich verarbeiten soll.
MF: Wie auch «Take Care», eine weitere persönliche Nummer…
Seraina (lachend): …ja! Ich mag es auf der Bühne ein bisschen die Grenzen beim Publikum auszuloten, also wie direkt kann ich beispielsweise mit den Anwesenden sprechen. Was sich viele nicht überlegen, dass es sehr egoistisch ist, wenn man nicht auf sich achtet. Ich habe mich schon oft über Leute aufgeregt, die mir persönlich sehr nahe sind. "Du kannst nicht entscheiden, dass du dich nicht um mich kümmern musst", dies entscheidest nicht du (lacht). Deine Freunde und deine Familie sind da, und du bist dafür verantwortlich, dass sie sich nicht um dich sorgen müssen. Diese Sichtweise habe ich noch nie gehört, ist mir aber sehr wichtig.
MF: Du hast es gerade angetönt, das Spielen mit dem Publikum. Ich sah aktuell drei Shows von dir. Speziell heute in Solothurn wurde es bei «Remember You» sehr still.
Seraina: Mega, ja (lautes Lachen). Die Reaktionen sind nicht immer gleich, können aber sehr spannend sein.
MF: Wie gehst du mit diesen Emotionen um, welche vom Publikum erwidert werden?
Seraina: Ich empfinde es als Energie. Aus diesem Grund werde ich nicht müde, weiter Musik zu machen. Es kommt immer etwas zurück, das entsteht und lebt. Bei einem Lied wie «Remember You», das sehr persönlich ist, fällt mir auf, dass noch immer Gefühle vorhanden sind. Ist das Publikum so leise wie heute, muss ich aufpassen, meine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Ich will meine Emotionen beim Spielen nicht zurück halten, es sollen aber nicht zu viele davon sichtbar werden.
"...Sehe ich Aufnahmen von mir, fällt mir auf, dass ich stark mit meinem Gesicht arbeite..."
MF: Nicht nur das hat mich beeindruckt, sondern auch die Art und Weise wie du mit deiner Mimik und deinen Augen spielst. Es ist faszinierend, wie du deine Emotionen damit ausleben kannst.
Seraina (lacht). Ich mache dies nicht bewusst. Okay, schneide ich eine Grimasse, dann ist es sicherlich bewusst. Mein böser Blick zum Beispiel (grinst). Sehe ich Aufnahmen von mir, fällt mir auf, dass ich stark mit meinem Gesicht arbeite. Es ist meine Art, etwas zum Ausdruck zu bringen (lacht).
MF: Kommen wir nochmals zurück zum Album. War die Entstehung eine "simple" Angelegenheit?
Seraina: Nein, definitiv nicht, denn das würde die Scheibe abwerten. Es birgt Tücken in sich, einfache Lieder zu komponieren. Beim Progressive Rock sagt dir niemand, wie ein Track zu klingen hat, weil es keine Grenzen gibt. Ein "catchy" Song muss jedoch danach klingen (grinst). Du musst einen Moment verfolgen der packt, aber weder plakativ ist noch schon tausendmal gehört wurde. Das ist ab und zu fast schwieriger, als sich keine Grenzen zu setzen. Das ist ein Gefühl beim Schreiben. Wenn ich merke: "NEIN!" (lautes Lachen), das klingt nicht gut, fühlt sich nicht nach mir an oder kenne ich schon…, oder ab und zu ist es ein Ton, der an einem anderen Ort hingesetzt wird, und ich weiss: "Yes, das ist mein Track!" Mit Kompromissen gebe ich mich aber nicht zufrieden (lautes Lachen). Entweder es gefällt mir oder nicht. Oft lasse ich einen Part stehen, weil ich bemerke, dass ich mich im Kreis drehe. Habe ich wieder frische Augen und Ohren, kann durchaus eine tolle Nummer daraus werden. Ein Song, bei dem ich nicht zu 100 % dahinter stehe, kommt bei mir nicht aufs Album. Entweder er fliegt raus, weil wir ihn nicht zum Starten bringen oder er wird geändert bis er so steht, wie er klingen soll.
MF: Wie hast du dir deine Begleitband für die Bühne ausgesucht?
Seraina: Mike, unseren Trommler, kenne ich schon lange. Er spielt bei Dead Venus und ist mein Lieblings-Schlagzeuger. Darum war klar, dass er unsere Live-Shows spielen wird. Zuerst wollten wir Dead Venus und meine Solo-Truppe trennen. Aber da wir zusammen ein so grossartiges Team sind, hat Mike auch viele Dinge im Studio eingespielt. Carmen unsere Bassistin…, das war eine lustige Geschichte. Wir jammten mit einem anderen Bassisten bezüglich eines anderen Themas. Dabei sprachen wir über meine Solo-Truppe. Ich wollte eine Frau in der Band, diese Girl-Power (grinst). Es gibt sehr viele talentierte Musikerinnen in der Schweiz, und es musste deshalb eine Bassistin sein (lautes Lachen). Dieser Freund empfahl mir Carmen aus Bern. Ich bekam ihre Nummer, sie kam auf eine Probe vorbei und wir haben uns sozusagen ineinander verliebt (lautes Lachen). Es passte von Anfang an, und sie ist eine richtige Power-Frau.
MF: Nach dem Konzert oder in den Pausen sieht man dich jeweils am Merchstand. Ist diese Solo-Band eine One-Woman-Show?
Seraina (lacht): Es hat viele Gründe. Wir sind auf der ersten Tour, die Kosten sind hoch, und darum sind wir nur zu dritt unterwegs. Ein zweiter Gitarrist würde garantiert gut klingen und ein Merchandiser würde uns viel Arbeit abnehmen. Aber wir sind zu dritt und halten den Laden so am Laufen (grinst). Ansonsten wäre mir langweilig (grinst). Es gibt viel freie Zeit auf Tour. Zudem verkaufe ich mehr Artikel, wenn ich persönlich am Stand stehe. Die Leute kommen zum Plaudern und wollen ein Foto machen.
"...Es gibt viele Schüler, die nach der Stunde sehr glücklich sind, und das verleiht mir sehr viel Energie..."
MF: Du hast neben deiner Solo-Truppe auch noch Dead Venus am Start und arbeitest ja als Gesangslehrerin. Wo lädst du bei all der Musik deine Batterien wieder auf?
Seraina: Bei der Musik (lautes Lachen)! Auch beim Unterricht, und logisch gibt es Schüler und Schüler (grinst). Ich habe zusätzlich einen Kinderchor, und das kann sehr anstrengend sein (lacht). Es gibt viele Schüler, die nach der Stunde sehr glücklich sind, und das verleiht mir sehr viel Energie. Selten habe ich den Wunsch nach einer Pause. Habe ich an einem Tag tatsächlich mal nichts zu tun, dann fahre ich mit meinem Motorrad los oder ich zeichne. Ab und zu schaue ich auch ein bisschen TV.
MF: Was sind die Pläne für deine Zukunft?
Seraina: Rockstar werden (lautes Lachen). Klar!
MF: Wie bei Thundermother und ihrer Weltherrschaft…
Seraina: …ja, das sage ich spasseshalber auch. Nein! Aber ich würde gerne auf den grossen Bühnen singen und auch auf den grossen Festivals auftreten. Ich denke, dass es mit diesem Sound funktionieren könnte.
MF: Wie bist du zur Musik gekommen?
Seraina: Schon als kleines Kind, da ich aus einer sehr musikalischen wie ungemein kreativen Familie stamme. Mein Vater spielt Bass und meine Mutter sang. Mit meiner Schwester spielte ich Theater, und wir haben sehr viel gezeichnet. Es war zudem etwas da, auch wenn ich mir nur Musik anhörte. Etwas, das mich berührte. Früh bemerkte ich, dass ich singen will. In der Schule waren die Lehrer der Meinung, dass ich eine gute Stimme habe, und somit stand ich vorne an der Bühne. Gesangsunterricht bekam ich erst viel später. Ich bin mit fünf Geschwistern aufgewachsen, darum waren die finanziellen Möglichkeiten nicht vorhanden (lacht). Gesangsstunden sind keine billige Angelegenheit. Von meinem ersten Lohn als Coiffeuse finanzierte ich mir meine Stunden selbst, und mit siebzehn Jahren nahm ich meinen ersten Gesangsunterricht. Später war ich dann an der Jazz- und Rockschule.
MF: Besten Dank für die Zeit und weiterhin alles Gute für deine Zukunft.
Seraina: Danke dir, sehr gerne.