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Es gibt viele tolle Heavy Metal Musiker und viele spannende Interviews über sie zu lesen. Hauptsächlich werden aktuelle Alben bis ins kleinste Detail durchleuchtet oder die Tour und der Einfluss eines neuen Bandmitglieds analysiert. Fakt ist: das ist alles sehr informativ, doch neben der gehörten Musik erfreut sich seit ein paar Jahren auch das musische Wort immer grösserer Beliebtheit. Bücher über Heavy Metal!
Bücher, die die Leidenschaft durchleuchten. Bücher, die sich mit der Heilsamkeit von Heavy Metal befassen. Bücher, die sich mit der Geschichte des Heavy Metal, mit den Fans, auseinander setzen. Wer steht aber hinter diesen Büchern? Wer schreibt über Musik, anstatt sie selber zu machen? Ich hatte das Vergnügen, am letzten Metal-Talk in Luzern, den Autoren Jörg Scheller («Metalmorphosen») und Nico Rose («Hard, Heavy & Happy») etwas Zeit abzuknöpfen und sie nach ihren Beweggründen und Erfahrungen mit Metal auszufragen. Das Interview ist nicht gerade kurz…, aber lesenswert!
MF: Hallo Jörg, hallo Nico. Stellt Euch unseren Lesern doch bitte kurz vor.
Jörg: Jetzt haben wir ein Schachmatt der Höflichkeit (Gelächter). Nico fang doch du an.
Nico: Nico Rose, 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, zwei Katzen, komme aus Hamm (Deutschland) in der Nähe von Dortmund. Ich war bis Anfang vierzig ganz brav Manager in der freien Wirtschaft, die längste Zeit davon beim Bertelsmann Medienkonzern, dazwischen mal drei Jahre Professor für Wirtschaftspsychologie, habe alles vor ungefähr eineinhalb Jahren abgelegt und bin nun selbst und ständig. Mir ist noch nichts Intelligentes eingefallen, denn es klingt immer so langweilig. Ich schreibe Bücher, halte Vorträge, mache ein bisschen Coaching und treibe mich viel auf Metal-Konzerten herum.
Jörg: Ich bin Jörg Scheller. Ich bin 44 Jahre alt, also dem Nico auf den Fersen. Habe die Professur noch nicht abgelegt (lacht), bin weiterhin Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste, unterrichte auch in Polen, in Pozna? an der Kunsthochschule und bin so in meinem Fach etwas aus der Bahn geschlagen, da ich mich in der Kunstgeschichte vor allem mit Phänomenen beschäftige, die auf ersten Blick nicht unbedingt Kunst sind. Zum Beispiel Bodybuilding oder eben auch Metal. Nebenbei bin ich selbst Musiker, betreibe seit 2003 einen Heavy Metal-Lieferservice mit dem Duo Malmzeit. Wir machen so ultimativ bourgeoisen Metal, sitzend, Tee trinkend und über das Wetter schreiend. Dann bin ich noch zertifizierter Fitnesstrainer in meinem weiteren Nebenleben und das wären wohl die wichtigsten Aspekte.
Nico: Mein anderes Amt, das ich noch vergessen habe, ich bin ehrenamtlicher Minister für Schwermetall, aber nur auf Facebook (Gelächter).
MF: Nach diesem Einstieg erübrigt sich fast die nächste Frage, aber ich stelle sie trotzdem. Was bedeutet Heavy Metal für euch?
Jörg: Also ich weiss nicht, wie es dir geht Nico, aber mich begleitet Heavy Metal seit ich so zwölf Jahre alt bin. Es war immer ein bisschen eine Hassliebe. Man kennt ja so die Klischees im Metal, die nerven. Ich bin ein Abstinenzler, ich trinke kein Bier und bestimmte Dinge habe ich am Metal nie gemocht, aber die Musik habe ich immer geliebt und zwar wirklich körperlich, erotisch, wenn du so willst. Es ist eine Musik, die mich bis heute total triggert, die ich in bestimmten Lebens-Situationen einfach brauche und wissenschaftlich gerne studiere. Ich habe den Ehrgeiz entwickelt, einfach mehr darüber zu lernen.
Nico: Mein Vater hat mich schon Richtung Rock-Musik gebracht. Ich war dann mit zwölf Jahren ganz grosser Guns N' Roses Fan für diese zweieinhalb Jahre und hab dann über den Plattenschrank von meinem Papa die Scorpions für mich entdeckt, die bis circa 1984 grossartige Musik gemacht haben. Mich hat der Heavy Metal an der Nordsee gepackt, auf der schönen Insel Wangerooge. Da waren wir vom Gymnasium aus in einem Schulland-Heim und im grossen Aufenthalts-Raum, wo gegessen und gekickert wurde, hat dann jeder so seine Kassetten reingeschmissen und jemand hatte «The Best, The Rest, The Rare» von Helloween mitgebracht, eine Compilation, nach dem Ausstieg von Kai Hansen glaube ich.
Da habe ich das zum ersten Mal gehört, Michael Kiske, dieser hohe Gesang, diese Geschwindigkeit, doppelte Lead-Gitarren, Doublebass kannte ich so nicht und wie bei dir Jörg, war sofort eine ganz körperliche Erfahrung da. Es war so wow, was ist das? Ich brauche mehr davon und das hat mich seitdem auch nicht mehr losgelassen. Ich kann punktuell auch andere Musik hören, ab und zu mal Klassik, wenn’s passt, dann ein bisschen Jazz zum Frühstück. Aber ich brauche Metal wirklich, neben der reinen Lustperspektive, wirklich für mein Wohlbefinden, damit es mir gut geht. Ich hangle mich so von Konzert zu Konzert, dort lässt du dir für drei vier Stunden die Birne frei blasen, dann nach 4-6 Wochen allerspätestens, ist dieser Effekt wieder weg und ich brauche ein neues Konzert. Es ist wie ein Nährstoffmangel. Natürlich kannst du Metal auch über Kopfhörer zuhause haben aber ich brauche schon dieses Liveerlebnis, weil das irgendwas füttert, was ich anderswo nicht kriege.
MF: Jörg, du hast vorhin schon einige Klischees erwähnt. Habt ihr euch vom Zeitpunkt der Erkenntnis an, nach aussen hin als Metalheads zu erkennen gegeben (auch beruflich) und falls ja, seid ihr damit auch angeeckt?
Jörg: Bei mir ging es ganz früh los. Ich bin so mit zwölf infiziert worden von Metal, hatte schon mit dreizehn meine erste Band und standen so ab vierzehn Jahren wirklich auf Bühnen. Wir wurden dann von so einer älteren Hard Rock Band entdeckt und als lustige Vorgruppe mitgenommen. Die fanden es damals wohl amüsant, sie wahrscheinlich um die fünfzig und wir um die vierzehn herum. Araya hiessen die, hatten etwas von Uriah Heep gespielt, und die hatten uns oft gebucht im süddeutschen Raum.
Wir waren ziemlich früh mit Metal unterwegs und dementsprechend hat man sich auch zu erkennen gegeben. Wir haben verzweifelt versucht, uns die Haare lang wachsen zu lassen, was gerade bei den ersten Konzerten nicht geklappt hatte und was dazu führte, dass wir so Popper-Haarschnitte hatten (Gelächter). Die Haare wuchsen einfach nicht schnell genug. Dennoch lebte ich es auch der Familie gegenüber und der Schule gegenüber sehr explizit und sehr demonstrativ aus. Es hat sich auch danach nicht geändert, also ich habe das nie versteckt. Nur was bei mir immer der Fall war, ich habe immer mehrere Leben gleichzeitig geführt.
Ich war auch Sportler und habe im Basketball immer einen Anschiss von meinem Trainer bekommen, der gesagt hat: "Mensch, mach die Haare weg, du siehst den verfluchten Korb nicht!" Dann bin ich noch stark im Straight Edge Hardcore Punk verwurzelt. Straight Edge ist etwas, das ich seit Teenager lebe und so habe mir mit fünfzehn einfach eine Glatze rasiert, also eher die Skinheadfrisur. Insofern habe ich mich nie versteckt. Ich unterrichte auch bis heute im Motörhead oder Suffocation T-Shirt, stehe also auch an der Hochschule genauso vor Studenten, wie ich jetzt hier zum Konzert gehen würde.
Nico: Bei mir war es nach aussen hin etwas später, so mit vierzehn. Zuerst habe ich ganz viele CDs gekauft, alles mal von Helloween, Gamma Ray, Iron Maiden und Blind Guardian, so dieser Dunstkreis und bin dann später auch in Richtung Gothic und Düster-Rock weggerutscht. Habe eine Zeitlang gerne edelschwarz getragen (Gelächter), durchaus auch mal etwas mit Rüschen. Man durfte da so glänzen, wenn man abends ausging. Ich war nie ein richtiger Schwarzheimer, der noch angefangen hat, sich das Gesicht zu bepinseln, aber etwas Glanz und Glitter durfte nicht fehlen. Was übrigens auch nicht gepasst hat, ich habe viel Streetball gespielt, was so auch gar nicht zueinander gepasst hat.
Dann war ich erstmal Student, da war es ziemlich egal, wie du rumläufst aber die Jahre im Konzernumfeld bei L'Oreal, die haben schon eher erwartet, dass man sich etwas schnieke macht. Was dann in der umgekehrten Richtung dazu geführt hat, weil ich keine Zeit mehr hatte mich umzuziehen, dass ich im schicken Nadelstreifen-Anzug an ein HammerFall Konzert ging. Das war auch ok. Zuerst wurde man komisch beäugt, aber wenn du mitsingen kannst ist alles wieder ok. Dann gab es eine Phase, wo ich das einfach berufsbedingt etwas nach innen kehren musste, weil schon erwartet wurde, dass du im Anzug kommst.
In den ausgehenden Dreissigern hat es mich dann intensiv beschäftigt, warum ich das eigentlich verstecken muss, denn ich war ja nicht dümmer oder weniger glaubwürdig, weil ich jetzt meinetwegen ein Motörhead T-Shirt anhabe. Eine ganz tolle Kollegin damals bei Bertelsmann hat mir einen ganz grossen Gefallen getan. Sie war auch Metalhead, hat es aber ein wenig besser versteckt als ich, hat Karriere gemacht und ist jetzt bei einer bekannten Firma im Personalvorstand. Auch der Chief Facility Officer von Bertelsmann war gleichzeitig Drummer in einer sehr geilen Iron Maiden Cover-Band. Sie haben zu meinem 40sten Geburtstag mein Türschild austauschen lassen. Anstatt Nico Rose, Vizepräsident of irgendwas, stand nur noch Nico Rose, The God of Metal!
Ich habe mich sehr gefreut, denn damit wurde ein Teil von deiner Persönlichkeit auf der Arbeit bestätigt und verifiziert, statt dass es hiess, lass das bitte zuhause. Die Idee war natürlich, dass das Teil nach einer Woche wieder runterkommt. Was sie allerdings nicht wussten, ich hatte mit meinem Chef schon lange meinen Austritt ausgehandelt und man wird ja bekanntlich schmerzfreier, wenn man eine neue Perspektive hat. So galt irgendwann die Macht des Faktischen und ich blieb die letzten neun Monate «The God Of Metal». Das sind dann die kleinen Freuden des Alltags.
Jörg: Und Rob Halford hat dich nicht verklagt? Er hat sich nämlich «Metal God» markenrechtlich sichern lassen…
Nico: Nein!
Jörg: Doch! Rob Halford hat die Rechte an der Marke «Metal God». Da bist du noch glimpflich davongekommen (lacht).
Nico: Er (sein Social Media Manager) hat schon mal ein paar Posts von mir geliked, von da her…
MF: Dann kommen wir einmal zu euren Büchern. «Metalmorphosen» und «Hard, Heavy & Happy» dürfte unter Metallern ein Begriff sein. Wie kommt man auf die Idee, statt sich Metal anzuhören, über Metal zu schreiben?
Jörg: Ich glaube, im Metal ist es etwas ganz Natürliches, denn wenn man sich Metal-Fans anschaut, dann sind es eigentlich Leute, die sehr viel über ihre Musik nachdenken. Da geht es ja explizit nicht einfach darum, nur zu folgen und etwas toll zu finden, sondern du solltest auch begründen können, weshalb du ein Genre einem anderen Subgenre vorziehst. Du musst Material-Kenntnis haben und es steht hoch im Kurs, wenn du weisst, wo deine Bands herkommen, wie sie sich entwickelt haben und auf was sie sich beziehen.
Heavy Metal ist als Kultur total wissensaffin wie neugierig und besitzt zudem einen forschenden Charakter. Insofern war es für mich etwas total Natürliches, all diese Gedanken, die ich mir immer schon gemacht habe, ein bisschen stärker zu formalisieren, stärker zu kontextualisieren und das Ganze aufzuschreiben. Es war vielleicht auch schon ein Prozess des erwachsener Werdens, dass du merkst, woher das alles kommt und was es bedeutet. Für mich hat es sich dann auch ganz organisch mit der Wissenschaft verbunden. Ich schreibe über Kunst, Politik und viele andere Dinge, warum soll ich dann nicht auch über Metal schreiben? So sind dann die «Metalmorphosen» entstanden.
Ich habe vor allem versucht, die Wandelbarkeit und die Pluralität von Metal zu betonen, der zumindest im Mainstream ja ein konservatives Image hat, was aber total den Verhältnissen widerspricht, denn Metal ist wahnsinnig hybrid und wahnsinnig vielfältig. Er hat aber eben dieses Image, das ihm die Massenmedien gegeben haben und das habe ich ein wenig auszulegen versucht im Buch, was da eigentlich alles drinsteckt und aus welchen Quellen sich Metal speist.
Nico: Also ich habe erst einmal das Glück, dass das Schreiben bei mir total intrinsisch motiviert ist, also schon sehr lange, als ich noch Manager war, habe ich immer schon nebenbei publiziert. «Hard, Heavy & Happy» ist nun schon das siebte Buch. Die Wahrheit ist aber, ich bin gefragt worden. Ich hatte die Idee grundsätzlich nicht selber, auch wenn ich offen war, aber ich bin von einer Verlagsmanagerin angesprochen worden, die vorher wiederum einen Artikel von Jörg (Scheller) in der «Psychologie heute» gelesen hatte. Und dieser Artikel bezieht sich im weitesten Sinne auch auf dieses Thema "wellbeing", also wie hilft Metal eigentlich dabei, glücklich oder manchmal weniger unglücklich zu sein.
Diese Verlagsmanagerin, die selbst Metalhead ist, hat mich 2019 dann so ein bisschen professionell auf Facebook (Ministerium für Schwermetall) gestalkt. Sie hat gesehen, dass ich Bücher geschrieben habe, Professor war, offensichtlich Metal mag und mich mit eben "wellbeing" beschäftige. Dann hat sie mich angequatscht. Tatsächlich mit der Idee, ob ich nicht Lust hätte ein Buch zu machen über die Verbindung von Metal und Wohlbefinden. Im ersten Moment habe ich tatsächlich abgelehnt, denn ich hatte auch schon ein wenig recherchiert, aber es reichte nicht für mehr als zwanzig bis dreissig Seiten. Ein Buch sollte schon gegen 200 Seiten haben.
Dann habe ich alles für ein paar Monate in die Ecke gelegt und dann kam Corona. Keine Konzerte, keine Festivals, viel Zeit an der Hand, schreiben ist intrinsisch, also mich daran erinnert und überlegt, was ich alles in anderen Büchern über Metal oder auch in wissenschaftlichen Fachartikeln gelesen habe. Schlussendlich fand ich, dass doch genug Stoff für ein Buch zusammenkommt. Trotzdem habe ich, um noch mehr Tiefe rein zu bringen, eine kleine Studie aufgesetzt. Weil ich etwas Hilfe aus dem Wacken-Universum erhalten habe, hatte ich auf einmal eine 6'000er Stichprobe zusammen, was ordentlich ist und die Erkenntnisse aus der Studie habe ich dann wieder mit dem restlichen Manuskript verwoben. Dann war es (das Buch) auf einmal da.
Was ich durch die vorige Recherche gesehen hatte, es gab soziologische Betrachtung, kunsthistorisch wusste ich schon, ist aber nicht mein Feld, deshalb soziologisch: Metal in der DDR, Metal im Iran, Gender im Metal, Queerness im Metal. Dann hast du die ganzen Biografien, die Künstlerbiografien, du hast literaturwissenschaftliche Betrachtungen, die Bedeutung von Bandshirts etc. Also, da war ganz viel aber das Einzige, das ich noch nicht gefunden hatte, und ich komme tendenziell eher aus dem Marketing-Bereich, da überlegst du dir schon vorher, wo die Lücke ist.
So richtig aus der Sicht des Individuums: "Was macht die Musik mit dir? Was machst du mit der Musik? Wie hilft Metal dir dabei, ein halbwegs anständiges Leben zu führen? Sehr subjektiv, sehr psychologisch!" Das habe ich bisher noch nicht gefunden und dann wusste ich, dass ich es so schreiben will.
MF: Wir haben es alle mitbekommen, dass dein Buch ganz schön eingeschlagen hat, du sehr viele Lesungen hast, unter anderem auch beim "Wacken Open Air". Was hat sich seitdem für dich verändert?
Nico: Reicher oder berühmter als vorher bin ich nicht, aber es ist tatsächlich eine ganz ganz schöne Ergänzung zu meinem normalen Leben. Ich bin zwar relativ häufig auf Bühnen, aber an klassischen Wissensvorträgen, da kriegst du zwar auch Anerkennung und ein bisschen Liebe (Gelächter) aber hier ist es noch mal eine ganz andere Form, weil das Buch offensichtlich mit ganz vielen Menschen etwas macht. Zwar nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern viele Menschen schreiben mir zu den biografischen Teilen, dass ich gerade ihre Jugend aufgeschrieben habe, sie es richtig cool finden und sich bedanken.
Das ist fast noch das Oberflächlichste. Ich berichte ja zum Beispiel im Buch auch, in einzelnen Kapiteln, über meinen Umgang mit Depressionen und wie Musik dabei geholfen hat. Gerade davon werden viele Leute nochmals getriggert und sie sagen mir einfach, dass es ihnen total geholfen hat, dass ich es offen anspreche. Dann sind auch sehr berührende Momente dabei. Ich war zum Anfang des Jahres noch in einer sehr coolen Buchhandlung im Saarland, eine grosse Lesung mit 150 Leuten und danach kam eine Dame zu mir und sagte, dass sie letztes Jahr Krebs gehabt hätte und vor der Chemo mein Buch durchgelesen habe. Sie musste das bei der Chemo immer bei sich haben, denn es hätte ihr Kraft gespendet.
Eine andere Dame hat mir einen halben Roman geschrieben auf Facebook, sie sei Ende fünfzig, der einzige Metalhead in der Familie wie auch im Freundeskreis, und sie konnte bisher nicht ausdrücken, warum ihr das so wichtig sei. Und dann hat sie geschrieben, Original-Zitat: "Dein Buch hat mir die Worte gegeben, nach denen ich solange gesucht habe." Wir Psycho-heinis haben ja einen Helfer-Komplex aber das ist dann schon Ober-Gänsehaut. Von diesen Erlebnissen hatte ich ganz ganz viele, und das ist fast noch schöner, als der reine Erfolg.
MF: Hat sich bei dir in diese Richtung auch etwas getan, Jörg?
Jörg: Bei mir eigentlich weniger. Bei mir hat man schon so ein bisschen aufgegeben, zu wissen, für was ich stehe und was mich beschäftigt. Ich habe Bücher geschrieben über Bodybuilding, Aquarien, über Bärte, Popmusik, eigentlich alles Mögliche. Da kam halt noch so ein Metalbuch dazu und die Leute wussten, der interessiert sich für Metal, der macht Metal, zwar auf eine komische Art und Weise vielleicht, aber er machts. Insofern war es bloss noch ein weiteres Mosaik-Steinchen in diesem Bild, das man nicht so richtig verorten konnte. Mein Buch ist also zwischen allen Stühlen, es ist wissenschaftlich bis zu einem gewissen Grad, auch essayistisch und durchaus auch experimentell.
Es hat keine klare Ideologie oder so etwas dahinter, allenfalls könnte man es noch als liberal bezeichnen. Ich lote so die Vielfalt des Metal aus und zeige dann zum Beispiel, dass Metal, auch wenn das hauptsächlich Musik ist, die von Männern gehört wird oder die Konzerte hauptsächlich von Männern besucht werden, dass die Ästhetik des Metal eigentlich total Post-Gender ist. Allein schon der Power-Chord hat kein Tongeschlecht. Der ist quasi geschlechtsneutral. Dann die hohen Stimmen, die Nico schon erwähnt hat, die engen Hosen und die langen Haare. All das ist auf interessante Art und Weise doppelt codiert.
Die langen Haare, der Helden-Mythos oder der Warrior-Mythos und gleichzeitig hat es etwas Feminines. Insofern habe ich da versucht, ein Fels der Ambivalenzen zu öffnen und das hat aber durchaus ein paar Leute getriggert. Sie wussten nicht genau, wo steht der Typ, was meint der eigentlich, ist der pro Gender oder gegen Gender. Das sind diese entweder oder Denker und manchmal gibt es dann recht gehässige Reaktion.
Sie sagen, dass ich mich klarer positionieren muss, oder ich hätte bei Gender noch mehr beschreiben sollen, wie frauenfeindlich oder chauvinistisch die ganze Sache ist. Aber ich schreibe von der Ästhetik her und das ist ein Blick, der eher unüblich ist, denn meistens betrachtet man es eher soziologisch psychologisch und die Leute verwechseln eben sehr oft Ästhetik mit Soziologie.
Nico: Es ist witzig, denn ich habe neulich etwas an meiner Homepage gemacht und da gibt es ja die Rubrik: «wer bin ich?» und da steht nun neu: «Ich bin eine gemischte Tüte». Ich war zwar nicht so vielfältig aber dennoch war ich Manager, Psychologe, Doktorarbeit über Controlling – Riesenfehler, übrigens und gleichzeitig habe ich mich als Manager schon verhalten wie ein Professor und deswegen schreibe ich mittlerweile «gemischte Tüte». Ich möchte mich da gar nicht mehr einordnen.
Jörg: Und genau damit kommen die Leute oft nicht klar, dass du nicht nur Vielfalt forderst, sondern selbst Vielfalt bist. Das ist für mich Diversity, ich fordere Diversity nicht von anderen dahingehend, dass sie alle möglichen Gruppen erstmal repräsentieren, sondern ich fordere Diversity erst einmal von mir selbst. Nämlich, weil ich verschiedene Aspekte meiner Persönlichkeit zulasse, und ich auch nicht versuche stillzustehen, eine Form von Klarheit und Reinheit zu erzeugen.
MF: Wir Metalheads werden oft als einfältig oder dilettantisch bezeichnet und mir ist bei beiden Büchern aufgefallen, dass ihr für die Fans eine Lanze brecht und aufzuzeigen versucht, dass nicht alle Metaller "Idioten" sind. Kommt das aus eurem ganz persönlichen Inneren oder verspürt ihr eine Art wissenschaftlichen Antrieb, die Situation einfach mal klarzustellen?
Nico: Ich glaube, dass es eine persönliche Erfahrung ist, obwohl ich nicht sagen kann, dass ich der Prototyp eines Metalheads bin. Wer kann das schon für sich sagen? Meine Perspektive ist, ich war ja zwischendurch auch mal Professor, zwei drei Gehirnzellen müssen idealerweise vorhanden sein. Der Typ, mit dem ich an Konzerte gehe, Dr. Marc Zirnsak, war lange in Stanford - Neuropsychologie. Er ist einer der schlausten Menschen, die ich kenne. Das war erst mal meine Erfahrung. Ich habe nun diese grosse Datenmenge aus der Studie und kann auch einfach mal empirisch hinschauen. Das gilt nun schwerpunktmässig für die deutschen Metalheads, denn ich wüsste jetzt nicht, ob das genauso zutrifft für die Metalheads in Südamerika.
Was ich aber in der Studie, auf rein demographischer Ebene gefunden habe, dass die Leute, ich weiss nicht ob sie schlauer sind, aber zumindest im Mittel höher gebildet. Wenn ich jetzt diese 6'000er Stichprobe vergleiche in Puncto Studienabschlüsse, mit einer repräsentativen deutschen Stichprobe, haben wir mehr Bachelor- oder Masterdiplome. Übrigens auch im Mittel etwas mehr Geld, was natürlich mit den Studienabschlüssen korreliert. Dann habe ich noch eine Studie gefunden, die fand ich ganz interessant.
Es gibt eine Persönlichkeits-Eigenschaft, die ist stabil über das Leben hinweg und die nennen wir "need for cognition", also der Wunsch oder der Drang, Dinge zu durchdenken. Da sind die meisten Leute in der Mitte und ein paar haben es weniger und andere eben ganz viel. Dann schaust du dir die Populationen an. Wenn du hinter dich schaust, sind da ganz viele Schliessfächer. Wenn du jetzt mit der neuen Information, einem sogenannten Stimulus konfrontiert wirst, versuchst du das ganz schnell einzuordnen und abzulegen. Das wäre "low need for cognition".
Wenn du die Motivation hast, dir das von ganz vielen Seiten anzuschauen, die Schubladen offen lässt, auch tolerieren kannst, dass es in mehreren Schubladen Platz finden könnte, nennt man das "high need for cognition". Das Spannende ist, dass die Metalheads als Population da relativ hoch drin sind und zwar die heutigen Metalheads. Ich habe zwei Studien dazu gefunden, eine von 2020 und eine vom Anfang der Achtzigerjahre.
Anfang der 80er war es noch etwas anders, da war der Metalhead vielleicht noch ein bisschen einfacher gestrickt. Da wurde vielleicht dieses Klischee noch erfüllt, Arbeiterklasse, Augen zu und durch. Das ist aber heute in Deutschland definitiv nicht mehr so. Da gibt es schon einen hohen Akademikeranteil und eben auch, den Wunsch sich da reinzusteigern, sich damit zu beschäftigen, sich das zu erarbeiten und ganz viel darüber nachzudenken.
Jörg: Ich musste mich auch erfreulicherweise selten, zumindest in letzter Zeit, gegen Vorurteile wehren. Ganz im Gegenteil, viele finden es mittlerweile richtig interessant. Diese Mischung, die wir jetzt vielleicht verkörpern, die bei mir nie so geplant war, kommt zurzeit ganz gut an. Gerade in dieser Medien-Wirtschaft, wo die Leute so exotische Figuren suchen. Wenn du dann Professor bist und noch ein exotisches Hobby hast, dann ist es auch für die Medien noch mal interessanter. Das war in meinem Fall natürlich nie so geplant, ich mach seitdem ich dreizehn Jahre alt bin, eigentlich nichts anderes.
Ich höre Metal, ich gehe ins Gym, beschäftige mich mit Kunst und Philosophie. Mittlerweile kann ich mit dem, was ich so mache, mein Geld verdienen, was fantastisch ist. Tatsächlich kommt es heute sehr viel besser an, als das früher der Fall war. Da wurde man schneller in Schubladen gesteckt. Ich glaube, bei mir war der Anreiz, diese Vielfalt, die Qualität zu betonen und dies ganz nüchtern, ganz wissenschaftlich. Ich glaube, es ist einfach so der Fall, dass diese Vielfalt empirisch gegeben ist.
Ich wollte einfach noch ein wenig mehr rausholen. Es gibt ja sehr viele Bücher über bestimmte Aspekte, Gender und Metal, DDR und Metal, Queerness und Metal, in welchen die Leute so kleine Fachgebiete mit Blick auf Metal bespielen. Da wollte ich aus Sicht der Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft, Ästhetik, den Blick nochmal weiten. Aber ansonsten habe ich da eigentlich keine Probleme mehr, mit in die Deppen-Schublade gesteckt zu werden (lacht).
Nico: So als Zuhörer ist mir eine Sache noch wichtig. Da geht es nicht so um den Aspekt der Intelligenz, sondern um etwas, das ich schon noch persönlich genommen habe und auch dagegenhalten wollte. Für mich, in meinem Leben, das habe ich auch in Diskussionen mit anderen Metalheads erfahren, ist Metal eine heilende Kraft. Etwas, das mich gesund erhält und etwas, das mich auch wieder gesund machte, wenn ich zu weit in die Depression, die bei mir in der Familiengeschichte tief verwurzelt ist, abgerutsch bin.
Wenn du anfängst in wissenschaftlichen Datenbanken zu wühlen, findest du Artikel aus den frühen Achtzigerjahren, wo in durchaus angesehenen medizinischen Journals, Leute sich hingestellt haben, basierend auf Meinungen oder zweieinhalb Interviews, und im Grunde sehr emphatisch gesagt haben, Metal hören ist eigentlich eine schlechte Sozialprognose. Die haben wirklich gesagt, und das ist dann auch nach aussen getragen worden, Eltern ihr müsst euch wirklich Sorgen machen, wenn eure Teenies anfangen Metal zu hören.
Die werden Kiffer, Stricher, ja Drogenabhängige, bis zu dem Punkt, wo wirklich jemand sinngemäss gesagt hat, Metal hören in der Jugend, ist eine schlechte Sozialprognose. Das hat mich schon persönlich ein bisschen motiviert, da auch bewusst entgegenzuhalten.
Jörg: Genau diese Haltung war übrigens in meiner Familie verbreitet. Diese Angst, Metal bedeutet Drogen, später keinen guten Job und somit auch kein Geld. Es kann gut sein, dass diese Studien auch quasi diesen Commonsense aufgenommen haben und dem so eine wissenschaftliche Aura gegeben haben. Ich glaube nämlich nicht, dass diese Ergebnisse auf valider Forschung basieren, denn die Daten lagen damals ja noch gar nicht wirklich vor. Insofern ist es wohl eher eine ideologisch gefärbte Wissenschaft, die einfach versucht hat, die Weltanschauung von bestimmten Bevölkerungsgruppen zu verstärken - um im Metal-Slang zu bleiben. Dadurch hat es sie natürlich auch verzerrt.
Nico: Das war ja auch in den Achtzigern, als Tipper Gore ihre Liste mit den «Filthy Fifteen» aufgestellt hat. Da war ja auch Madonna oder Prince mit drauf. Sex war sowieso schlecht. Dieses Konsortium um Tipper Gore, die beinahe First Lady, hat mit ihrem Parental Advisory-Aufkleber für beste Werbung in den Plattenläden gesorgt. Wie viele geile Musik hätten wir ansonsten verpasst in unserer Jugend (Gelächter)?
Jörg: Durch diese Aufkleber konntest du ganz schnell in den Regalen sehen, was sich zu hören lohnt. So bin ich auf Bodycount und Ice-T gekommen. Das war der Sticker!
Nico: «Right now, my job is eating these doughnuts!» (Gelächter)
MF: Wenn wir schon bei der Musik sind: mit Malmzeit bringst du Metal eigentlich sehr atypisch rüber. Weshalb genau diese Kunstform?
Jörg: Wir haben uns mit dem Metal-Duo Malmzeit überlegt, was denn die letzte mögliche Rebellion im Metal ist. Fast alles wurde schon gemacht, also aus irgendwelchen Megapenissen Schleim ins Publikum zu spritzen, mit Tierköpfen rumzuwerfen und Satan schreiend die Bibel zu verbrennen und all solches Zeugs. Damit lockst du ja niemanden mehr wirklich an, das hatten wir alles schon. Aber die letzte Geste der Provokation ist eigentlich Kräutertee! Sich auf die Bühne zu setzen, im Anzug Kräutertee zu trinken und wirklich nur noch Lyrics ins Publikum zu röcheln, die vom Wetter handeln, das provoziert manche Leute doch ziemlich. Wir hatten einen Auftritt und da sassen echte Metalheads dann mit den Rücken zu uns und haben uns in den Pausen beschimpft. Insofern war das, glaube ich zumindest, nochmal ein Versuch, den Heavy Metal zu radikalisieren und wir haben ihn radikal verbürgerlicht. Vielleicht auch nur etwas bürgerlich gemacht, wie er eigentlich immer schon ein wenig war. Metal war ja nie so aktivistisch wie Punk. Metal bleibt ja eher Zuhause, ist eher häusliche Musik. Man liest Tolkien und geht nicht rüber und zündet das Haus des Dorfkapitalisten an, sondern schreibt vielleicht einen 600-seitigen Roman über die Schlechtigkeit der Welt. Das waren so die Ideen, die wir mit Malmzeit verbanden und seit 20 Jahren läuft das jetzt sehr gut und wir werden immer noch gebucht.
MF: Dann würdest du Heavy Metal auch als eine Kunstform bezeichnen?
Jörg: Ja absolut, aber als Kunsthistoriker habe ich natürlich einen vollkommen ernüchternden Kunstbegriff. Für mich ist Kunst nichts Gutes, sondern Kunst bedeutet etwas zu tun im Leben, das nicht unmittelbar zweckmässig und funktional ist. Etwas, wo du die Welt reflektierst und transformierst auf eine Art und Weise, dass es neu erlebt werden kann. Man ringt dem Leben etwas ab, das das Leben von sich aus nicht so hergibt. Es kann gut sein, schlecht sein, propagandistisch, kitschig… alles Mögliche! Kunst ist für mich kein Werturteil und deshalb ist Heavy Metal natürlich Kunst. Absolut!
MF: Und du Nico, spielst du eigentlich auch in einer Band?
Nico: Nein, ich habe mit sechs Jahren richtig angefangen Orgel zu spielen. Die steht also noch bei meinen Eltern im Wohnzimmer, die ist nun 40 Jahre alt, so richtig mit Holz und mehrerern Manualen. Ich glaube die war von Technics. Dann habe ich mit dreizehn oder vierzehn Jahren angefangen Metal zu hören, da war die Orgel natürlich uncool. Hätte ich damals Deep Purple besser gekannt, hätte ich sie vielleicht mehr in Ehren gehalten. Somit war der nächste Schritt zumindest Synthesizer, dass ich Stratovarius oder ähnliches nachspielen konnte. Bald fand ich auch das noch zu wenig und mit siebzehn Jahren habe ich doch noch angefangen, ein bisschen Gitarre zu lernen.
Der Papa von einem guten Freund hat mir die ersten Sachen beigebracht. Das war dann auch die Zeit der einigermassen anständigen Internet-Verbindungen und man konnte sich Tabulaturen herunter laden. Ich habe schliesslich für mich angefangen im Keller zu spielen. Ich habe mir noch einen sündhaft teuren Synthesizer gekauft, einen KORG, der steht immer noch im Keller und ich habe sogar noch Musik auf Diskette. An dieses Material komme ich aber gar nicht mehr ran. Im Grunde habe ich wirklich erst mal angefangen, im Keller alleine für mich zu komponieren. Ich hatte einen ziemlich guten Sequenzer und so habe ich Bass, Schlagzeug und Gitarre eingespielt und auch Texte dazu geschrieben. Habe aber nie etwas veröffentlicht.
Schliesslich hat eine lokale Band nach einem Synthesizer-Player gesucht aber die wollten die nächsten Radiohead werden. Ich habe gar nicht richtig gespielt, sondern musste nur einen Akkord greifen und dann möglichst viele Störgeräusche produzieren. Das war aber wirklich nur ganz kurz, danach ist alles auseinander gegangen. Seitdem habe ich das eigentlich abgehakt, die Gitarre schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr angefasst, aber momentan habe ich gerade eine produktive Midlifecrisis, da stürze ich mich mit Wonne rein. Ich finde das noch immer viel intelligenter, als mir einen Porsche zu kaufen. Meine Frau, die etwa im gleichen Alter ist, macht seit ein paar Wochen Poledance, ich find’s gut und es ist Sport!
Jörg: Es ist Kunst! (Gelächter)
Nico: Ich habe tatsächlich aus einer Laune heraus angefangen Gesangs-Unterricht zu nehmen. Gar nicht so zu Metal, sondern ganz allgemein. Es ist eher die klassische Art und ich finde es gerade total geil. Aber ich hätte wirklich immer noch Lust, in der Psychologie gibt es so den Gedanken des ungelebten Lebens. Wir bereuen ja meistens am Ende des Lebens nicht die Sachen, die wir gemacht haben, sondern jene, die wir nicht gemacht haben. Und ich hätte schon den Wunsch, mal noch eine CD aufzunehmen, also Musik, die es in diesem Augenblick nur in meinem Kopf gibt, nach draussen zu bringen, sodass auch andere Leute sie hören können.
Wie, wann und in welcher Form weiss ich nicht. Ich hoffe, dass ich noch ein bisschen Zeit habe. Im Augenblick bin ich aber erstmal total froh und dankbar für die Metal-Bücher, mittlerweile ist ja noch eines dazugekommen, dass ich auf Festivals auftreten kann, tolle Künstler kennengelernt habe aber tatsächlich, wenn ich jetzt schaue, wo ungelebtes Leben ist, müsste noch was mit Musik kommen.
MF: Unter dem Begriff «Mental Health» haltet ihr auch immer wieder Diskussionsrunden, solche wie heute Abend auch eine stattfindet. In den letzten Jahren hatte man so das Gefühl, dass das Thema Gesundheit und Heavy Metal unweigerlich zusammengehören. Wie bereitet ihr euch auf so eine Diskussion vor?
Jörg: Wir haben das relativ pragmatisch vorbereitet. Ich kenne ja Nicos Arbeit, er kennt meine Arbeit und man weiss schon ein bisschen vom gegenseitigen Lesen, wie der andere tickt, was die Schwerpunkte sind und haben dann so einen kleinen Themen- und Fragenkatalog erarbeitet. Den werden wir dann heute Abend mal durcharbeiten. Da ist also auch viel Raum für Spontanität, wenn es uns auf andere Wege bringt, dann werden wir die weiterverfolgen aber wir haben gewisse Orientierungspunkte, an denen wir uns entlanghangeln.
Nico: Bei mir ist es natürlich Eigeninteresse, dadurch dass ich selbst schon mehrfach an Depressionen erkrankt war. Wie ich heute weiss, zieht es sich erblich bedingt durch meine Familie. Auf der anderen Seite siehst du, wie sehr die Metalszene davon betroffen ist. Es gibt ja durchaus eine lange Reihe von Selbstmorden und wahrscheinlichen Selbstmorden, von sehr berühmten Personen der Metalszene. Ich habe lange überlegt, ob ich für die Studie das fragen darf, weil es immer eine etische Verantwortung mit sich bringt.
Dadurch, dass ich das eigenmotiviert gemacht habe und nicht mehr an der Uni bin, habe ich mir diese Freiheit genommen. Ansonsten, bei eine Unistudie, hätte ich die Frage einem Ethikkomitee vorlegen müssen, um nachzuweisen, dass das Ganze keinen Schaden verursacht. Ich sage immer ganz authentisch von mir, dass ich glaube, dass Metal mir schon mindestens einmal das Leben gerettet hat. Fairerweise muss ich sagen - Metal plus Sport. Heute kennt man die positiven Effekte, von drei- viermal lockerem Ausdauertraining oder einem schönen guten Krafttraining. Das in eine Pille gepackt, wäre wahrscheinlich das potenteste Antidepressivum überhaupt.
Das Problem ist, wenn jemand richtig depressiv ist, kann man auch keinen Sport machen. In einem milden Stadium gibt es aber nichts Besseres als Ausdauersport und Krafttraining. Das habe ich damals, in meiner Jugendzeit, intuitiv für mich erkannt, als ich in Amerika war. Zwischen meinem 16. und 17. Lebensjahr habe ich einen Austausch gemacht und mich aus verschiedensten Gründen leider nicht sehr wohl gefühlt. War komplett isoliert, Freunde weg, Familie weg und habe vor Ort nicht das gleiche stützende Netzwerk gehabt. Mit sechzehn, mitten in der Pubertät, fühlt man sich sowieso Scheisse und das hat mich damals zusammen mit meiner genetischen Vulnerabilität einfach weggehauen, bis zu sehr konkreten Selbstmordgedanken. Und deswegen sage ich heute immer, dass das, was mir damals geholfen hat, war neben Sport, eben der Metal und ich empfinde auch eine grosse persönliche Dankbarkeit, gegenüber einigen Musikern.
Deswegen habe ich das Buch auch fünf bestimmten Musikern gewidmet, weil ich einfach sage, dass sie mit ihrer Musik, mich getragen haben. Ich werde gerade wieder emotional aber das ist ok! Am Ende habe ich mich dann getraut, die allerletzte Frage des Fragebogens, «Metal hat mir mindestens einmal das Leben gerettet» zu stellen. Sage und schreibe, 40% von diesen 6'000 Leuten, die wiederum für eine Masse von Menschen stehen, haben das bestätigt. Nicht, dass sie sich sonst alle weggetan hätten aber für mich ist es trotzdem ein Indikator dafür, wie gross die positive Kraft ist, die diese Musik im Leben von Menschen entfalten kann.
Gerade im Gegensatz zu den Stereotypen von aussen. Für Leute von aussen ist es aggressive, traurige Musik, die wütend macht, aber das ist ja eine falsche Zuschreibung. Ich kann zwar verstehen, dass Leute sagen, dass sie durch diese Musik in ein Loch fallen aber für mich und für viele andere Metalfans ist es eine grosse Kraft, die einen von diesem Loch fernhält. Das wollte ich eben auch sehr eindringlich in diesem Buch beschreiben.
Jörg: Das ist interessant. Da gibt es nämlich eine Parallele zu mir, weniger mit Blick auf Depressionen, von denen ich zum Glück bislang verschont geblieben bin, habe nur so den üblichen intellektuellen Weltschmerz, das Verzweifeln an den Verhältnissen, die natürlich viel schlimmer sind als man selbst. Was ich aber total spüre, genau wie du Nico, ist diese Dankbarkeit bestimmten Musikern und Alben gegenüber.
Also ohne Motörhead, würde ich heute sagen, wäre ich ein signifikant schlechterer Mensch, und ohne Henry Rollins wäre ich heute auch ein signifikant schlechterer Mensch und ohne Bodycount wäre ich heute signifikant schlechter. Das hat mir damals total viel gegeben, auch von diesen Typen gepusht zu werden. Es waren nämlich alles Typen, die gesagt haben, "jetzt nimm dich mal nicht so ernst", mach irgendetwas, geh raus! Es gibt Dinge, die du selber tun musst, die dir die Gesellschaft nicht abnehmen kann.
Heute beobachte ich mit einer gewissen Skepsis, dass es sehr viele Stimmen gibt in unserer Gesellschaft, die Leute auf ihrer Opferrolle festschreiben, sie darauf reduzieren. Mir haben eher die Stimmen etwas gebracht, die mich getriezt haben, die mir gesagt haben, was für ein weinerlicher Jammerlappen ich doch bin. Henry Rollins konnte das sehr gut. Mir persönlich hat dies total gut getan, und ihm bin ich bis heute dankbar, ganz emotional, ganz tief.
Dieses Gefühl geht auch nicht weg, das bleibt total stabil. Henry Rollins könnte sich jetzt in Prinzessin Lillyfee verwandeln, das wäre vollkommen wurscht. Auch als Lemmy gestorben ist, 2015, habe ich wirklich ein Jahr lang, immer wieder Weinanfälle bekommen, und das geht eigentlich bis heute so. Es klingt total kitschig und übertrieben, aber ich sass dann wirklich manchmal im Zug und mir liefen plötzlich so die Tränen runter, weil irgend so ein Motörhead Song durch meinen Kopf ging. Das hat mich so gepackt, getriggert und geprägt. Insofern haben wir etwas gemeinsam.
MF: Da spricht die Leidenschaft! Gibt es noch Personen, die euch ab und zu den Heavy Metal absprechen möchten, und wie geht ihr mit ihnen um?
Nico: Das ist mir schon ewig nicht mehr passiert. Ich hatte einmal, vor zwei oder drei Jahren, ein Paket im Postkasten mit einem Büchlein und einem handgeschriebenen Brief dazu. Da wollte mich jemand bekehren, glaube ich. Aber ganz offensichtlich war das christlich geprägt und er hat mir dann dargelegt, dass selbst ein Schockrocker wie Alice Cooper, spät in seinem Leben zum Christentum gefunden hat. Ich weiss auch gar nicht, ob das überhaupt stimmt.
Jörg: Doch, das stimmt. Er ist bei den «Reborn Christians». Auch Rob Halford bezeichnet sich als Christ.
Nico: Mittlerweile sind mir solche Meinungen egal. Was natürlich ab und zu mal passiert, dadurch dass ich dieses Ministerium mache, dass mir Dinge zugetragen werden. Screenshots aus dem Internet werden dann geteilt, das Ministerium markiert mit der Bitte, «sag doch auch mal etwas dazu». Ein letzter Post war so dermassen wirr, dass ich nur gesagt habe, ohne anmassend zu klingen, dass dieser Mensch vielleicht nicht ganz gesund sein könnte. Es lag mir aber fern zu lästern oder mich über diese Person lustig zu machen. Ansonsten, wenn du Metal scheisse findest, dann ist das eben so. Manchmal ist es auch ganz lustig mit meiner Frau. Sie war immerhin schon mit mir bei Metallica und ich bin dann zum Ausgleich mit ihr zu Ed Sheeran gegangen. Es war wirklich gut.
Jörg: Das ist hart! Respekt!
Nico: Nein, ganz ehrlich. Der steht da, alleine, die meiste Zeit nur mit Gitarre und einer Loopstation und hat 60'000 Leute voll im Griff. Das finde ich erstmal beeindruckend…
Jörg: Ein hoher «Return of Investment» würde ich sagen…
Nico: Du musst ja nicht gleich jedes Lied mögen aber du kannst ja die Kunst dahinter schätzen. Aber letztes Jahr zu Silvester haben wir so alte Fotoalben heraus gekramt, und meine Frau hatte ein Album, bei dem sie sechzehn oder siebzehn Jahre alt war. Da hatte sie reingeschrieben: «I love Kirk Hammet!» (Gelächter) und auch später, sie hatte so einen froschgrünen Ford Fiesta, als wir uns kennengelernt haben und in einer der Seitentaschen fand ich eine Kassette.
Auf der einen Seite waren Metallica und auf der anderen Manowar drauf. Diese Phase hatte sie also in ihren Teenie-Jahren auch. Leider, als wir uns kennengelernt haben, war sie schon bei Beyoncé und Rihanna angelangt, aber sie ist eine sehr tolle Frau, und ich habe sie sehr sehr lieb, denn "nobody is perfect" (Gelächter)!
Jörg: Also ich mache mir jetzt auch keinen Kopf mehr, wenn man mir Metal vermiesen möchte. Ich habe mehr Mühe damit, wenn manche Personen versuchen, gewisse Bands oder Musiker in eine gewisse Ecke zu stellen und zu vereindeutigen. Ein Beispiel aus der Schweiz, was Okoi Jones von Bölzer vor ein paar Jahren passiert ist. Irgendjemand hat seine Swastika-Tattoos auf dem Unterarm fotografiert, diese dann ins Internet gestellt und behauptet, dass er sicher ein Nazi sei. Die Indizien: weiss, männlich, muskulös, bärtig und Swastikas, das kann ja nur eines bedeuten.
Dass dies von vielen anderen Magazinen einfach so aufgegriffen und kolportiert wurde, sodass er sich dann öffentlich rechtfertigen und auf seine afrikanischen Wurzeln verweisen musste, was er von sich aus nie getan hätte, fand ich wirklich furchtbar. Da äussere ich mich dann auch dazu und gehe in Kontroversen rein. Viele Menschen kennen auch nicht die Ambivalenz mancher Symbole und gerade das Swastika, die Nazis haben das umgeändert, ist ein uraltes Symbol, das man in vielen Kulturen kennt. Dass dann manche Menschen so auf der Suche nach Eindeutigkeit und Feindbildern sind, das macht mir durchaus zu schaffen. Da scheue ich mich auch nicht, mich in der Medien-Öffentlichkeit dementsprechend zu positionieren und es zu kommentieren.
Wenn ich mir dabei einen Shitstorm einfange ist mir das vollkommen wurscht, denn genau so etwas führt zu Kulturkämpfen und Feindschaften in den Gesellschaften. Das braucht es wirklich nicht. Wir sollten uns mehr auf die echten Autoritären, auf die echten Nazis und auf die echten Linksextremen konzentrieren und nicht auf so Pappkameraden schiessen.
Nico: Was mir dazu noch einfällt, das schreiben wir beide in unseren Büchern, es geht mir eher auf den Senkel, wenn sich die Metalheads selber gegenseitig dissen. Ich höre nur usbekischen Black Metal, der von einem einarmigen Mann in einer einsamen Höhle eingespielt wurde, und alles andere ist Mainstream. Du mit deinen Metallica und Helloween! Das geht mit ziemlich auf den Senkel. Auf meiner Plattform passiert das natürlich ziemlich häufig, dass gewisse Personen das so kategorisch raushauen und ich finde das scheisse.
Natürlich gibt es auch Bands, die ich nicht so gut finde aber ich habe mir einfach angewöhnt, wenn ich darüber spreche, es in der Relation zu sehen. Ich sage dann: «die machen nichts mit mir». Aber ich erlaube mir kein allgemein gültiges Urteil. Viele Leute "haten" so gegen Sabaton und in Deutschland "haten" viele gegen Powerwolf. Ich finde beide auch nicht so prickelnd, aber ich kann doch wertschätzen, dass die mittlerweile viele Millionen Menschen erreichen.
Dann sage ich eben lieber, dass es nichts mit mir macht, anstatt zu sagen, dass sie scheisse sind. Soviel persönliche Autorität habe ich nicht und sollte ich auch nicht haben. Da würde ich mir manchmal wünschen, dass die Leute den Geschmack der anderen mehr respektieren!
MF: Das war doch ein tolles Schlusswort. Vielen Dank euch beiden für die Zeit und das ausführliche Gespräch. Nun bin ich gespannt auf euren Metal-Talk.